Soziokultureller Wandel unserer Gesellschaft in 2010

Ich bin ein großer Freund  der Trendforschung. Im Grunde genommen sollten Christen die besten Trendforscher sein, denn ihnen ist es gegeben „Zeit und Stunde“ zu erkennen und die „Zeit auszukaufen“. Aber unser Rückzug aus der realen Welt, hinein in eine abgeschottete Subkultur macht das leider unmöglich. Sich damit zu befassen wäre ja „weltlich“. Aber auch in einigen enthusiastisch-charismatischen Kreisen erkenne ich diesen Rückzug, obgleich mit einer anderen Begründung – es ist „nicht geistlich“, sprich zu „menschlich“, die Ergebnisse solcher Forschungen in unsere Gemeindearbeit einfließen zu lassen. Uns fehlt eine ehrliche Theologie und Praxis der Inkarnation. Der Begriff kommt aus dem Altertum (Latein) und heißt „Fleischwerdung“ – bezieht sich in dieser Weise speziell auf die Mensch-Werdung des Sohnes Gottes.

Und das Wort wurde Fleisch und Blut und schlug sein Zelt unter uns auf, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit, wie nur er sie als einziger Sohn des Vaters besitzt, voller Gnade und Wahrheit. Johannes 1,14 (eigene ÜS)

Das Sinus-Institut erforscht die Sinus Milieus und den Wertewandel in unserem Land schon seit über 30 Jahren. Die Ergebnisse sollten uns aufhorchen lassen! Hier nur ein kleiner Auszug aus dem aktuellen Update 2010, das frei als Download zur Verfügung steht.

Was sind die wichtigsten derzeit zu beobachtenden sozialstrukturellen (und in der Folge soziokulturellen) Veränderungen in Deutschland?

  • Wachsende Wohlstandspolarisierung
    Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, die Zahl sowohl von Armen als auch von Reichen wächst, und ärmere Haushalte werden immer ärmer. Diese Polarisierung führt zu einem wachsenden Konfliktpotential, das durch die schrumpfende Mittelschicht (von 66% in 2000 bis 60% in 2009) noch virulenter wird. Dabei ist die „gefühlte“ Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Lage noch größer als es den tatsächlichen Verhältnissen entspricht – wenn auch die Zeit kontinuierlicher Wohlstands- und Sicherheitsgewinne endgültig abgelaufen scheint.
  • Statusfatalismus und Abgrenzung
    Die von der ehemals statusoptimistischen Mitte wahrgenommene Abwärtsmobilität (mit steigender Fallhöhe) in der heutigen Gesellschaft führt zu Zukunftsorientierungen ex negativo – mit der Leitmaxime „bloß nicht abrutschen“ –, zu verschärfter Abgrenzung nach unten und, speziell in Folge der Finanzkrise, zu wachsender Skepsis und Kritik an „denen da oben“.
  • Prekäre Beschäftigungsverhältnisse
    Als Ergebnis der Hartz-Reformen gab es einen starken Anstieg unge- schützter, unsicherer Arbeitsverhältnisse und prekärer Beschäftigungen. Insbesondere für die junge Generation sind Regelarbeitsverhältnisse (unbefristet, voll sozialversicherungspflichtig) heute nicht mehr die Norm – mit der Folge einer „Entstandardisierung“, aber auch Flexibilisierung von Lebensläufen und wachsendem Druck auf die sozialen Sicherungs- systeme.
  • Biografische Brüche
    Die noch bis vor kurzem eher exotische Patchwork-Biografie wird zur Normalperspektive der jüngeren Generation. Das führt zu wachsendem Kontrollverlust, da die Konsequenzen des eigenen Handelns unsicher sind und die Verlässlichkeit ehemals vertrauenswürdiger Institutionen (Rentenversicherung, Bildungssystem, Gesundheitssystem etc.) stark abgenommen hat. Zwangsläufige Folge der neuen Unberechenbarkeit ist eine speziell in den jüngeren Milieus gewachsene Regrounding-Tendenz (Bedürfnis nach Halt, Zugehörigkeit und Vergewisserung), aber auch neue Komptenzen wie autonomes Handeln, Navigation und Networking.
  • Erosion der klassischen Familienstrukturen
    Die häufigen Brüche im Erwerbsleben beeinflussen auch massiv das private Leben. Familienplanung kann nur noch kurzfristig und mit Blick auf die gerade verfügbaren Beschäftigungsmöglichkeiten erfolgen. Flexibilität und Mobilität werden zu modernen Sekundärtugenden, das Streben nach Work-life-balance wird durch den ständigen Zwang zur Setzung von Prioritäten (Job ober Familienleben) ausgehebelt. Und in der Folge wird die zentrale Institution der gesellschaftlichen Mitte, die intakte Kleinfamilie, zum Auslaufmodell.
  • Bildungsprobleme
    In der Wissensgesellschaft zählen zunehmend andere Kompetenzen als noch in der jüngeren Vergangenheit. Die immer geringere Halbwertszeit von Wissen zwingt zu lebenslangem Lernen. Einfache Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse werden radikal entwertet und heute bereits unter dem Begriff der „Bildungsarmut“ subsummiert. Menschen mit geringer Qualifikation geraten dadurch zunehmend unter Druck – zumal ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Qualifizierung und Erfolg am Arbeitsmarkt – und damit ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabe – besteht.
  • Digitalisierung
    Ältere und bildungsferne Menschen werden zudem auch durch die rasche Ausbreitung moderner Informations- und Kommunikations-Technologien verunsichert und überfordert. Wenn die nötige Informationskompetenz fehlt, gelingt es zunehmend weniger, das eigene Leben in einer komplizier- ten und unübersichtlicher werdenden Welt selbstbestimmt zu gestalten. Die Folge ist eine digitale Spaltung der Gesellschaft, in der – trotz weiter steigender Onliner-Raten – ganze Bevölkerungssegmente vom Moderni- sierungsprozess ausgeschlossen werden. Mehrheitlich (insbesondere in den gut ausgebildeten jüngeren Segmenten) befördert die Digitalisierung des Alltags aber neue Kompetenzen und Werte – wie Autonomie, Flexibili- tät, interkulturelles Wissen, Polysensualität, Transparenz – die ganz neue wirtschaftliche und soziale Perspektiven eröffnen.
  • Entsolidarisierung und Eigenverantwortung
    Die gewohnten Dienstleistungen des Wohlfahrtsstaats geraten zuneh- mend unter Kostendruck und müssen umgestaltet bzw. zurückgeschnitten werden. Abhilfe schaffen soll das Prinzip der Eigenverantwortung, das immer mehr Bereiche des Alltags durchdringt und das insbesondere die Effizienz und Effektivität sozialpolitischer Leistungserbringung erhöhen soll. Verbunden mit der Verlagerung von Verantwortung auf den einzel- nen ist die Ausbreitung des Selbstverschuldungsprinzips, das allmählich das Solidarprinzip und den gesellschaftlichen Sozialstaats-Konsens ver- drängt. Im Gegenzug wächst im modernen Segment der Gesellschaft die Fähigkeit zu Autonomie und Selbstbestimmung.
  • Risikobewusstsein
    Durch die Privatisierung von immer mehr Lebensrisiken werden sozial schwächere Bevölkerungsgruppen benachteiligt und tendenziell über- fordert. Generell ist eine erhöhte Risikowahrnehmung in der Gesellschaft festzustellen – von wachsender Angst vor Ressourcenknappheit und Verteilungskonflikten bis hin zur Angst vor privaten Fehlinvestitionen (z. B. Altersabsicherung, Immobilienkauf, Bildung der Kinder etc.). Gleichzeitig wächst der Grad an Freiheit und Wahlmöglichkeiten – was insbesondere die Lebensqualität der besser Situierten erhöht.
  • Entideologisierung
    Im Zusammenhang mit der Anpassung an die heute gesellschaftlich domi- nante Orientierung an Effizienz und Nützlichkeit beobachten wir eine Abnahme weltanschaulich geprägter und eine Zunahme pragmatischer Haltungen (z. B. bewusster Konsum statt demonstrative Konsumkritik). Die Logik der Machbarkeit, d. h. das Verfolgen unmittelbar umsetzbarer Ziele, diffundiert in den Mainstream und drängt das Streben nach der (ethisch guten) Utopie immer mehr zurück. Idealismus wird selektiv und pragmatisch – und damit gesellschaftlich wirksam. Ein Beispiel dafür ist die neue Konsummacht der LoHaS (Lifestyle of Health and Sustainability).
  • Neue Wertesynthesen
    Im Zuge dieser „pragmatischen Wende“ entwickeln sich neue Wertekon- figurationen, die nicht mehr der Logik des „entweder – oder“, sondern dem Anspruch auf das „sowohl – als auch“ verpflichtet sind; die Kombi- nation von scheinbar Widersprüchlichem wird insbesondere in den jungen Lebenswelten zur Regel. „Alte“ Werte wie Sicherheit, Einordnung, Leis- tung, Familie etc. werden zeitgemäß interpretiert und verbinden sich mit hedonistisch-ichbezogenen und individualistischen Entfaltungswerten. Charakteristisch dafür ist etwa die Sehnsucht nach traditionsgesättigten, symbolträchtigen Inszenierungen (z. B. Hochzeit in Weiß) bei gleich- zeitig nüchterner Betrachtung der Realitäten (die Hälfte der Ehen wird wieder geschieden).

7 Antworten zu “Soziokultureller Wandel unserer Gesellschaft in 2010

  1. Habe die Tage eine Diplomarbeit zum Thema Kindeswohlgefährdung gelesen, wo die Familienentwicklungen im letzten Jahrhundert aufgezeichnet worden sind.
    Als ich das laß, wusste ich nicht mehr wo oben noch unten ist und bemerkte wie ich teilweise unbemerkt schon in diesem reißenden Fluß des Werteverfalls befand. Immer mehr Kinder werden in Kindertagesstädte gegeben, die Ganztagsschule ist das primäre Bildungsprogramm der Bundesregierung und und und. Konservativen Kritikern wird der Mund gestopft, die sich gegen einen Wertewandel ausprechen. Die Liberalen beschönigen die Entwickungen und machen trotz der wahnsinnigen Scheidungsraten und neuen Beziehundmoadlitäten auf positive Erscheinungen aufmerksam. Bei Scheidungskindern wird dann beispielsweise die neue Qualität der Beziehung mit den getrenntlebenden Eltern der tradierten Familien mit ihrer Quantität von Zeit entgegengestellt und hervorgehoben. Auch die Scheidungsstatistik wird anhand des Paradigmas Qualität positiv gewertet. Die Scheidungsrate bspw. lag 1900 bei 1,9%, 2000 lag sie bei 46,7% und 2008 bei fast 51%. Selbst in den Gemeinden nehmen Scheidungen derart zu und Gedanken eine Scheidung nur in Erwägung zu ziehen werden toleriert.
    Wiederheirat ist mittlerweile normal geworden.
    Alleine diese Entwicklungen lassen eins erkennen:

    Der Geist der Gesetzlosigkeit ist mehr am Werk als je zufor!

    Die einzigste Schlussfolgerung für mich ist: Buße, Buße und nochmals Buße!
    Wenn wir auf Methoden aus sind, die auf neuen Trends basieren, aber nicht Gottes Gesetz, seine Heiligkeit, sein Gericht und anstatt einer Verwässerung von Gnade, die Bedingungen von bleibender und vortwährender Errettung, Gottesfurcht und Hingabe predigen, sind alle unsere Bestrebungen irgend etwas zu reißen sinnlos.

    Einer der neusten Trends von Pro Familie ist mit Studenten über einen angemessenen Umgang mit Pornographie bei Grundschulkindern zu debatieren. Dabei werden alle Schulden in Bielefeld von denen eingeladen und aufgeklärt. Wenn ich in der Uni das Gelaber von Gender und Sex höre und die Theorien des Konstruktivismus dann kommt mir die Kotze hoch.
    Grundschulkinder sollen entscheiden welchen Geschlechts sie sind…bla bla bla, dabei scheint das Gelaber aber mehr und mehr Wirklicheit zu werden.
    Bei allem Abfall brauchen wir um Himmels willen mehr Leiden und Kraft. Und wir müssen das Evangelium vom Reich Gottes predigen, dass die Welt mit ihren Entwicklungen als Reich Satans entblößt und befreit, und nähmlich von Dämonen zu erst! Wenn unser Evangelium trotz aller Methoden und Techniken keinen Wiederstand bei den Religionen und der Intelligenz der Menschen verursacht, sind wir wie Paulus sagt, bereits verflucht – und dann auch unsere Modernen Methoden und Techniken!

  2. Pingback: Zitate & Linxe « berlinjc·

  3. Ein volles JA! Und das zu jedem Punkt der Trendstudie. Hier nur einige Beispiele:

    – Wachsende Wohlstandspolarisierung – Menschen spüren und begreifen langsam in D, dass Geld nicht alles ist.
    – Prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Das Kirchenleben muss darauf reagieren. Unsere „Veranstaltungs- und Ehrenamtmentalität“ geht immer von der 40/40-Regel aus: 40 Jahre lang in einem Unternehmen in einer geregelten 40-Stunden-Woche beschäftigt sein.
    – Risikobewusstsein – fördert die Suche nach und Orientierung an neuen Werten und Sinninhalten.
    – Erosion der klassischen Familienstrukturen – Familien müssen in Kirchen neu gestärkt und gefördert werden
    – …

  4. Das ist erst mal eine Beschreibung, ob wir das positiv oder negativ bewerten hängt 1. von unserem Wertesystem und Wertbild ab und
    2. ist es entscheidend, welche Schlüsse wir nun daraus ziehen. Finden wir inder Beschreibung die kulturelle Schlüsselstellen für das Evangelium oder kapitulieren wir?

    Wo sind die Möglichkeiten für den Heiligen Geist bei dieser Entwicklung, die wohl eher so weiter gehen wird? Sind wir bereit umzugenden und eingefahren Wege zu verlassen um uns auf neue Situationen einzustellen?

    Das folgende Video ist zwar auf den Buchmarkt bezogen, aber es beschreibt sehr gut, wie ich finde, was es bedeutet die „Zeichen der Zeit“ mal anders zu deuten…

    Liebe Grüße – Michael

Hinterlasse eine Antwort zu jaasch Antwort abbrechen